Im Schatten

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Was von weitem wie ein schützendes Stück Vegetation in einer sonst lebensfeindlichen Landschaft aussah, entpuppt sich nun als völlig ausgelaugter Baumfriedhof. Jona steht vor Erschöpfung gekrümmt an der messerscharfen Waldkante und bemerkt, wie sein körperliches Empfinden immer präsenter wird, was eigentlich dagegenspricht, in einem Traum gefangen zu sein. Seine Blicke wandern von einem abgestorbenen Baum zum nächsten. Nicht eine Art kann er aus den noch aufrechtstehenden Exemplaren bestimmen.
Der armbreite Pfad, der ihn zu diesem strüppigen Mahnmal geführt hat, verschmälert sich mit Eintreten in den Wald schlagartig um eine ausgestreckte Handlänge. Ein nahezu metaphysischer Sog geht von ihm aus und zieht Jona mit jedem aufeinanderfolgenden Schritt mehr durch ein Meer an einst vermutlich prächtigen Hütern des Waldes. Die Tatsache, dass nicht einmal auf dem Boden Blätter liegen, wie Jona es aus seinen liebgewonnen Herbstspaziergängen kannte, deutet auf den lang verstorbenen Zustand des Waldes hin.
Die ausgetrockneten Gräser zu beiden Rändern des Pfades sind so scharfkantig, dass weitere Verletzungen an seinen sowieso schon aufgerissenen Fußsohlen kaum ausbleiben.
Ein melancholischer Schleier zieht sich knietief über den blassbeigen Waldboden. Jona fällt auf, wie ein essentielles Detail zu fehlen scheint, das unten auf der Insel noch so intensiv zu erleben war. Der Geruch von frischem Moos und nasser Erde hat diesem Wald vermutlich schon vor ettlichen Jahren den Rücken zugewandt. Denn auch hier hat sich der beißende Gestank von Rauch den Platz erkämpft. Dieser ist mittlerweile auch dafür zuständig, dass Jona selbst beim Einatmen Schmerzen in seinen Atemorganen verspürt.
Auf den rissigen Baumstämmen springen plötzlich funkelnde Lichtfetzen hin und her. Jona denkt zuerst an Glühwürmchen, verwirft die Idee aber aufgrund der größeren Form sofort wieder. „Was kann das sein? Taschenlampen? Ein Lagerfeuer?“ fragt er sich wortlos. „Letzteres würde zumindest zum Rauchgeruch passen.“ Als jene Lichtfetzen allerdings schlagartig seine Augen blenden, wird Jona klar, dass es sich um Spiegelungen auf einer Wasseroberfläche handeln muss. Das Gefühl von Hoffnung breitet sich lawinenartig in seinem ganzen Körper aus. Jonas Schritte werden schneller und er verspürt einen hauchzarten Druck in seinem Rücken, der ihn sanft den Pfad entlang schiebt. Es scheint, als möchte ihm der Wald bei der Suche der Quelle ein wenig unter die Arme greifen. Oder doch eher aus dem Wald verdrängen?
Jonas ferngesteuerter Marsch endet mit einem knöcheltiefen Tritt in eine Wasserlache, die für einige Meter den Weg unterbricht. Links neben der funkelnden Senke ragt womöglich das mächtigste Exemplar aller vertrockneten Bäume aus diesem Wald in die Höhe. Unzählige Wurzelstränge winden sich wie verzweigte Lüftungsschächte von der Wasserstelle bis zum Litfaßsäulendicken Stamm hinauf.
Was Jona zu dieser Stelle geführt hat, sorgt jetzt für ein wohlig umarmendes Gefühl auf seiner Haut. Am Ende des Pfades kämpft sich vom Horizont die Sonne durch die schwere Wolkendecke und wirft ihre Strahlen mit verbleibender Kraft auf die Wasseroberfläche. Ein liebevoller Hauch an wärmendem Licht streift Jonas Gesicht. Gleichermaßen wird ihm klar, dass der Wald hier endet und nach ihm weitere Ungewissheit und die Frage auf ihn wartet, in welche Realität er hier gerutscht ist.
„Okay, ich kann nicht mehr. Ich brauch jetzt echt eine Pause. Also wo, wenn nicht hier“, sagt Jona mittlerweile leicht verwirrt und schnaufend in hörbaren Worten zu sich selbst. So sucht er sich ein ebenes Stück Boden im Schutz des großen Wurzelgeflechts und lässt sich langsam nieder. Die Temperatur im Wald ist ausreichend, um nicht im Sitzen zittern zu müssen. Er schließt die Augen, atmet tief aus und gleitet in den Schlaf.
Am Horizont verdichtet sich die Wolkendecke und verschluckt die verbleibenden Sonnenstrahlen, die gerad eben noch den Wald hoffnungsvoll durchleuchtet haben. Zeitgleich ertönt ein tiefes Grummeln aus der Ferne und reist Jona aus dem Dämmerschlaf. Er schreckt hektisch auf mit Blick Richtung Waldkante. Von hier aus kann er sehen wie der Pfad in nur wenigen Metern aus dem Wald herausführt. Angetrieben von Neugier richtet er sich auf und läuft zögerlich Richtung Finsternis.

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